Roma e Toska

Zwiegespräch mit einem Fliegenpilz

Es wurde langsam dunkel, als ich ihn im Nieselregen über dem Wattenmeer fand, umgekippt lag er im Gras. Der Fliegenpilz. Alt musste er sein, ein »Silberrücken« unter den Fliegenpilzen. Sein roter Schirm war flach mit einem Durchmesser von bestimmt 15 cm, sein Stängel wohl fast 20 cm lang. Vorsichtig hob ich ihn auf und trug ihn aufgeregt wie ein Kind nach Hause.

Am nächsten Morgen legte ich ihn auf mein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Wie majestätisch er aussah. Vorsichtig ziehe ich mit dem Bleistift eine Linie um seinen Schatten, den das Licht von draußen geworfen hat. Wie eine Detektivin versuche ich, den Standort zu sichern. Amanita Muscaria lautet sein Name auf Latein, giftig ist er, und soll geholfen haben, Fliegen zu töten oder sie zumindest zu berauschen. Es gibt ihn in Märchen, bei Rotkäppchen, er ist bedrohlich und glücksbringend zugleich. Ein mystisches Wesen.
Seine Lamellen sehen aus wie ein aufgeschlagenes Buch mit altem Papier, über das sich der lederne rotgepunktete Einband wölbt. Unbedingt muss ich mehr erfahren über die »verflochtenen Welten« der Pilze. Was oben herausschaut nennt man Frucht, aber das eigentliche Leben findet unter der Erde statt mit einem weitverzweigten Netz von Fäden, den Myzellen. »Anarchisch-filigran« wie sie sich zum Teil kilometerlang ausbreiten. Seine Lebensform wird nicht als Gegenstand, sondern als Prozess verstanden.
Wir Menschen sollten uns mal intensiv mit den Pilzen beschäftigen, dann wüssten wir, ohne einander geht nichts in der Welt. 90 Prozent aller Pflanzen-Partnerschaften sind mit Pilzen. Man liefert sich gegenseitig, was dem anderen fehlt. Welche Künstlerinnen und Künstler haben den Fliegenpilz als Motiv verwendete? Ich finde den Begriff des »Sottobosso« als Kunstgattung des 17. Jahrhunderts, das Stillleben des Waldbodens. Pilze waren die ersten, noch weit vor den Pflanzen, die aus dem Wasser aufs Land gingen, um Lebensmöglichkeiten für alle zukünftigen Spezies zu schaffen. Wir sprechen von einer Zeit vor mindestens zwei Milliarden Jahren. Mein Fliegenpilz ist keine Pflanze und auch kein Tier, er bildet sein eigenes Reich, das der Funga, wie die Wissenschaft erst spät (1969) erkannte.
Unmerklich baue ich eine zarte emotionale Beziehung auf. Soll ich ihn wieder aussetzen, damit Schnecken ihn auffressen und er in den Kreislauf zurückgelangt, oder möchte er gar bleiben, sich auf dem Papier ausstrecken wie auf einem Totenbett? Mein Mann meint, ich sollte ihn im Ofen trocknen oder aufhängen. Fast zerreißt es mich, es hört sich grausam an. Ja, bin ich bescheuert, er ist doch nur ein Pilz, aber ich bin blockiert. Er sieht so friedlich und verwunschen aus, mein Pilz (fast hätte ich »Prinz« gesagt).
Der Fliegenpilz wird Inspiration für meine neue Kollektion »Encyclopedia«. Wer mehr erfahren will, der kommt die nächsten Tage im Kapitänshaus vorbei.
Birgit Gräfin Tyszkiewicz