VOM SPAZIEREN UND SAMMELN

Die Insel schärft den Blick bzw. bietet das Training dafür kostenlos an. Beginnen wir mit dem Horizont, dieser feinen Linie, an der Himmel und Meer aufeinandertreffen. Manchmal sind die Blautöne scharf voneinander getrennt, manchmal verschwinden sie diffus im Dunst, tanzen Schaumkronen davor. Wie oft habe ich versucht, all die Unterschiede für mich wahrzunehmen und zu beschreiben. Es öffnet die Seele. Dann senke ich den Kopf, beobachte den Strand, verfolge die Fußspuren der anderen. Ab-und-an mache ich mir den Spaß und trete in diese Fußstapfen hinein. Wie groß sind sie, wie weit der Schritt? Merkwürdige Schlangenlinien sind es. Meist komme ich aus der Balance und denke sinnbildlich, dass es doch besser sei, in der eigenen Spur zu gehen. Ich entdecke die unterschiedlichsten Muscheln, nehme sie hoch, betrachte sie sorgfältig. Es sind vor allem die Gedrehten, die Kaputten, die ihre Strukturen offenbaren, die meine Neugierde fesseln. Eine ganze Sammlung habe ich davon in meinem Geschäft und verschenke sie wieder an liebe Kund*innen. Mein Schritt wird langsam, ich verharre, bücke mich, gehe weiter und bin mit mir und der Welt auf schönste Weise verbunden.

Ähnlich ist es auf der anderen Inselseite, der Braderuper Heide mit Wattenmeer Panorama. Nun sind es die Blüten und Gräser, die ich beim Schlendern betrachte. Käfer, die langsam über den Weg krabbeln und hoffen, dass sie meinem Schuh entwischen. Ich kenne mich nicht aus mit ihren Namen, schade eigentlich. Trotzdem weiß ich genau, wo welche Pflanzen stehen, wie unterschiedlich sie ihre Halme nach links und rechts ausstrecken und sich sanft im Wind wiegen. Für ein Foto drapiere ich vorsichtig die Kette auf dem Wiesenkraut. Es ist ein Balanceakt, ähnlich wie wir früher als Kinder Mikado spielten.
Werden wir wieder zu Sammlern, die kleine Schätze in den Beutel stecken, aber vor allem mit den Augen aufnehmen, was sich bietet. „Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will“, sagte einst der Maler Henri Matisse. Roma e Toska hatte dazu ein T-Shirt. Spielerisch wie Kinder nehmen wir wahr mit einem unverstellten Blick, kein Handy vor der Nase, kein Podcast-Gebrabbel im Ohr. Alle Sinne sind geschärft für das große Urlaubs-Puzzle von Meer, Strand, Himmel, Wiesen, Vögeln, Käfern und was wir sonst noch alles entdecken. Wir mittendrin. Eines verspreche ich, so entstehen die echten Geschichten von dieser Insel im Monat Mai.
Birgit Gräfin Tyszkiewicz