Was ich alles können wollte
Als ich klein war, wollte ich fliegen können. Und wenn ich es mir lange genug einredete, dann war es auch so. Die Versuche blieben zwar wenig motivierend, aber es gab ja noch die Fantasie. Und Kinder unterscheiden nicht, in welcher Realität sie sich gerade befinden. Ich flog also, glitt über die Landschaften und saß später (diesmal in echt) zum Entsetzen der Eltern auf dem Dach unseres Hauses und schaute von oben auf die beschauliche kleine Welt. Vielleicht fing es da an, dass ich beseelt war von der Vorstellung, ich könne alles. Ich könne auch surfen, so wie die Weltmeister gerade da draußen, könne durch die Luft schießen mit bunten Segeln und auf schimmernden Brettern. Kann ich nicht, aber das kann ja noch werden, bin ja gerade erst 63 geworden.
Dann gab es diese Zeit, in der ich gar nichts auf die Reihe bekam. Es fing in der ersten Schulkasse an. Ich konnte keine hübschen Schlaufen malen, keine »E«s und keine »L«s. Ich konnte nicht Lesen, nicht Häkeln, saß schüchtern in der ersten Reihe und träumte mich weit weg, dorthin, wo ich unangefochten Heldin war. Die Eltern zuckten hilflos die Achseln und meinten, das Mädchen wäre einfach ein wenig dumm, aber lieben würden sie es trotzdem. Immerhin. Hätte ja auch schnell ein Doppelfehler werden können. Was wäre dann bloß aus mir geworden?
Der Rest ging endlich mit links. Ich hielt den Löffel für die Suppe mit links, malte mit links, warf den Ball mit links und reihte mich gedanklich ein in die großen Vorbilder, die auch alles mit links machten: Julius Caesar, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Charlie Chaplin, Einstein… Zwischen ihnen gab es sicherlich auch eine Menge berühmter Frauen. Ich wurde erzogen wie ein Junge, und damit hatte ich beide Geschlechter automatisch im Blick.
Warum ich das alles erzähle? Ich arbeite seit gut einem Jahr an einer Kollektion, die ich »Childhood« genannt habe. Darüber bin ich tief in eigene Vergangenheit getaucht und die Bilder von früher mit Baumwesen, Mondschein und leuchtenden Pilzen sind lebendig geworden. »Ich gehe mit meiner Kindheit spazieren«, schrieb mir eine Kundin. Was Mode nicht alles kann? Dazu gibt es Fellwesten und Cashmere-Schals, Secondhand orange-rote Taschen von Hermès und brombeerfarbene von Dior. Und wenn ich morgens über den Stoffschnipsel hänge und überlege, was es noch alles geben wird, dann kann ich wieder fliegen.
Birgit Gräfin Tyszkiewicz