Wenn alles Geschichten erzählt
Der Regen ist vorbei hier auf der Insel. Alles duftet und leuchtet, wie frisch geputzt. Tau hängt noch an den Gräsern und in den feinen Spinnenweben. Ich gehe spazieren mit einem Buch in der Hand über Mary Shelly, die Frankenstein schrieb in dem Sommer, in dem es keine Sonne gab, 1816. Ein Vulkan in Indonesien, der Tambora, war ein Jahr zuvor ausgebrochen. Hoch hatte er das heiße Magma in die Atmosphäre geschleudert, dass es sich mit den Winden um den Globus ausbreiten konnte. Der Himmel verdüsterte sich und veränderte das Klima.
Ich habe mich besonders angezogen, der weich-fallende Seidenrock von Yves Saint Laurent aus den 70er Jahren, dazu der Gürtel, die gestreifte Seidenbluse, ebenfalls von dem französischen Designer, den ich so sehr schätze. Die Lampione-Stola aus der eigenen Kollektion komplettiert den Look, der mich weit hinweg trägt an verschiedene Schauplätze in diesem grausigen Anno 1816, das mehr Opfer forderte als beide Weltkriege zusammen.
»Die Welt war porös, jede Sekunde wandelbar«, notiert Timo Feldhaus, der dieses bemerkenswerte Buch geschrieben hat. Bemerkenswert, weil er wichtige Persönlichkeiten um das Klima-Phänomen gruppiert, als wären sie miteinander vernetzt: Goethe in Weimar, Caspar David Friedrich in Dresden, der scheiternde Napoleon und immer wieder Mary Shelly, ihren Geliebten Percy Shelly, ihre Halbschwester Claire, Lord Byron und seinen Leibarzt.
»Der endlose Regen verbreiterte die Flüsse, Wasser trat über ihre Ufer und bildete neue Ströme und bald Sturzfluten, die besonderes in Süddeutschland ganze Täler umspülten. Niemand verstand, wo das viele Wasser herkam.« (Seite 202)
Die historische Beschreibung ähnelt den aktuellen Berichten aus den Zeitungen: »Niederschlag mit bis zu 60 Litern pro Quadratmeter in wenigen Stunden und Böen mit bis zu 70 Stundenkilometern…«
Mit dem Regen vor 200 Jahren kamen die Missernten und Hungersnöte, Epidemien und Unruhen. Die Erzählungen in dem Buch erhalten etwas Metaphorisches, in dem sich Weltgeschehen, Fantasie, Kunst und Klimawandel zu etwas verbinden, was zugleich faszinierend und gefährlich anmutet. Etwas stimmt nicht und gefährdet die bisherige Ordnung. »Es war leicht, nicht mehr zu können. Es war nicht leicht, etwas Schönes in etwas Dunklem zu finden.«
Vielleicht habt Ihr Leser*innen Lust, an einem taufrischen Morgen durch die Braduper Heide zu wandern mit einem Buch in der Hand und Gedanken über das Leben, wie schön es sein kann und wie fragil. Ansonsten freue ich mich über einen Besuch im Kapitänshaus.
Birgit Gräfin Tyszkiewicz